Das Sozialversicherungs- System:

Die Systeme der Sozialversicherung (wie Steuersysteme) können nicht harmonisiert werden, da die Staaten historisch, strukturell und politisch verschieden sind. Unterschiede bestehen in den Bemessungsgrundlagen, den Sätzen und Befreiungen, in der Altersversorgung und ob es eine Höchstbemessungsgrundlage pro Periode gibt. Jene Mitarbeiter, die flexibel sind, können die Beiträge durch Beschäftigung im Ausland und Entsendung (“Posting”) reduzieren; das ist möglich durch die Rechte der Freizügigkeit.

Die EU-Verordnung 883/2004 and Verordnung 987/2009 befassen sich mit der Koordination der Sozialsysteme zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und mit angeschlossenen Staaten. Zum Beispiel führte die Schweiz 2012 die Regeln mit der “Wegleitung für die Versicherungspflicht” (WVP) ein.

Grundregeln der EU-Verordnung 883/2004 sind:
Alle Einkünfte einer natürlichen Person in der Europäischen Union aus einer unselbständigen oder selbständigen Beschäftigung sollen vom Sozialversicherungssystem erfasst sein.

Alle Beiträge einer physischen Person werden in einem Land erhoben. Dieser zuständige Mitgliedsstaat berechnet die Beiträge aufgrund seiner nationalen Vorschriften im Inland, und zwar sowohl für nationale als auch für internationale Einkommen, zum Beispiel bei vorübergehenden Auslandstätigkeiten.

Aktivitäten in anderen Staaten müssen im zuständigen Mitgliedsstaat deklariert und im anderen Staat mittels Formular A1 freigestellt werden.

Regeln zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats (Art. 13):

  • nur unselbständige Beschäftigung oder unselbständige Beschäftigung >25% (Zeit oder Geld) am Wohnsitzstaat – Wohnsitzstaat ist zuständiger Mitgliedsstaat.
  • unselbständige Beschäftigung nur in einem Staat, der nicht der Wohnsitzstaat ist: jener Staat, wo der Arbeitgeber seinen Sitz hat, ist zuständiger Mitgliedsstaat.
  • unselbständige Beschäftigung in mehr als einem Staat ausserhalb des Wohnsitzstaats: Wohnsitzstaat ist zuständiger Mitgliedsstaat.
  • unselbständige und selbständige Beschäftigung: der zuständige Mitgliedsstaat wird durch die unselbständige Beschäftigung bestimmt.
  • mehrere selbständige Beschäftigungen: Wohnsitzstaat, wenn dort ein wesentlicher Teil ausgeübt wird; in allen anderen Fällen Mitgliedsstaat, wo sich der Mittelpunkt der Tätigkeiten befindet.

Es ist möglich, die Sachverhalte so zu gestalten, dass ein Staat mit vorteilhaften Rechtsvorschriften der zuständige Mitgliedsstaat ist:

  • Entsendung: siehe unten
  • unselbständige und selbständige Beschäftigung in zwei verschiedenen Staaten: für Selbständige ist dies eine vorteilhafte Gelegenheit, den zuständigen Mitgliedsstaat zu bestimmen: zum Beispiel unterliegen die Einkünfte der Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft bestimmter Staaten dort der Sozialversicherung, und Sozialabgaben haben keine Obergrenze. Wenn ein Partner, der seinen Wohnsitz in diesem Staat hat, eine Anstellung (zumindest Teilzeit) ausserhalb des Staates annimmt, wird der Beschäftigungsstaat zum zuständigen Mitgliedsstaat. Wenn dies zum Beispiel Malta ist, der Staat mit den niedrigsten Sozialabgaben in der EU, besteht eine tiefe Höchstbemessungsgrundlage, und die Einkommen des Kommanditisten unterliegen unter bestimmten Bedingungen nicht der Sozialversicherung.
  • Wohnsitz in einem anderen Staat: Wenn jemand zum Beispiel in Malta den Wohnsitz und eine Beschäftigung mit mehr als 25% hat, dann ist der zuständige Mitgliedsstaat Malta, wo eine niedrige Höchstbemessungsgrundlage besteht, und wo eine zweite Beschäftigung von der Sozialversicherung befreit ist. Sollte keine Vollzeitbeschäftigung ausgeübt werden, unterliegt die Beschäftigung mit dem höheren Grundgehalt (ohne Berücksichtigung von Boni oder Provisionen) der Sozialversicherung. Die EU-Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung 2003/88/EC beschränkt die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden, in Malta darf eine Person bei mehreren Arbeitgebern länger arbeiten, wenn der Haupt-Arbeitgeber davon informiert ist.
  • Trennung zwischen dem für Sozialabgaben zuständigen Mitgliedsstaat und dem Staat, wo Steuern aufgrund der Doppelbesteuerungsabkommen anfallen: beispielsweise ist es möglich, eine unselbständige Beschäftigung in Malta mit einer zweiten Beschäftigung in einem Staat mit niedrigen Steuern und unbegrenzten Sozialbeiträgen zu kombinieren. Damit wird Malta zum zuständigen Mitgliedsstaat, bei richtiger Gestaltung qualifiziert die Beschäftigung in dem anderen Staat (oder der Erhalt von Organ-Entschädigungen) nach maltesischen Rechtsvorschriften als zweiter Job, für den keine Sozialabgaben erhoben werden, und aus steuerlicher Sicht können diese Einkommen der günstigen lokalen Steuer unterliegen, je nach Doppelbesteuerungsabkommen.
  • Zweigniederlassung: Gründung einer Personengesellschaft in einem Staat mit vorteilhaften Rechtsvorschriften und unselbständige Beschäftigung in dieser Gesellschaft. Damit wird dieser Staat zum zuständigen Mitgliedsstaat. Die Personengesellschaft errichtet eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedsstaat, dort kann der Partner tätig sein, aber der Staat der unselbständigen Beschäftigung bleibt der zuständige Mitgliedsstaat.

Entsendung von Arbeitnehmern:

  • Entsendung (das System und die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten ist in der EU-Richtlinie 96/71/EG geregelt, oft auch „Entsenderichtlinie“ genannt): eine Person, die vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, kann im Sozialsystem des derzeit zuständigen Staats verbleiben und in dem ausländischen Mitgliedstaat, in den die Person entsandt wird, befreit werden. Eine Entsendung kann für 2 Jahre arrangiert und nach kurzer Anwesenheitszeit wiederholt werden.
  • Im Jahr 2014 wurde die Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU beschlossen, damit alle Mitgliedstaaten die Regeln der EU-Richtlinie 96/71/EG einführen: Ziel ist, lokale Mindestlöhne und Beschäftigungsbedingungen zu gewährleisten, Umgehung von Regeln zu vermeiden, die Zusammenarbeit zu verbessern und Informationen auszutauschen. Kontrollen und verhältnismäßige Sanktionen hätten bis 2018 eingeführt werden müssen, und nach Verzögerungen veröffentlichte die EU 2021 eine letzte Warnung an 24 Mitgliedstaaten mit einer Frist von 2 Monaten.
  • In einigen Fällen ist die Entsendung ein Instrument, um von den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsrecht im Entsendestaat zu profitieren und Teile der Gesetzgebung des Ziellandes zu vermeiden, insbesondere wenn bestimmte Sektoren im Zielland durch Gewerkschaften geschützt werden. Der Mitarbeiter hat dann einen Arbeitsvertrag im Entsendestaat, ist dort sozialversichert, lediglich die Steuern fallen im Zielstaat an. Die Herkunftsländer vermeiden es, ihren „Windfall-Profit“ bei den Sozialversicherungsbeiträgen aufgrund übermäßiger Bürokratie zu verlieren. Sie stehen jedoch unter dem Druck einiger Zielländer und müssen die Anforderungen für die Ausstellung eines Formulars A1 erhöhen (z. B. mehr als ein Monat physische Beschäftigung im Entsendeland, Aktivitäten für lokale Auftraggeber, Unternehmen dürfen nicht mehr als 90% ihrer Mitarbeiter entsenden).
  • Die Schweiz hat ein Abkommen zur Übernahme eines Teils des EU-Sozialversicherungssystems, dieses Abkommen enthält jedoch sogenannte „flankierende Massnahmen“, um Mindestlöhne zu schützen, hohe Transparenz zu gewährleisten und der Regierung die Verhängung von Kontrollen und Strafen zu ermöglichen.

(aktualisiert April 2024)